2009 Gesundheitsrecht 253
IX. Gesundheitsrecht
47 Entbindung vom Arztgeheimnis - Verhältnis der gesetzlichen Meldepflicht des Art. 15 BetmG und § 55b EG ZGB zur ärztlichen Schweigepflicht - Bei einer möglichen Gefährdung von Kindern rechtfertigen objektive Anhaltspunkte eine Entbindung
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 19. August 2009 in Sachen C.G. gegen M.P. (WBE.2008.270).
Aus den Erwägungen:
II.
1.
1.1.
Gemäss Art. 321 StGB sowie § 30 GesG haben Ärzte Geheim-
nisse, die sie im Rahmen ihrer Berufstätigkeit feststellen, zu wahren.
Von dieser Schweigepflicht können sie sich durch Einwilligung des
Berechtigten durch eine Bewilligung, welche im Kanton Aargau
vom DGS erteilt werden kann, befreien lassen. Auch bleiben die eid-
genössischen und kantonalen Bestimmungen über die Zeugnispflicht
und über die Auskunftspflicht gegenüber einer Behörde vorbehalten
(Art. 321 Ziff. 3 StGB). Da mit der Geheimhaltungspflicht von Be-
rufsgeheimnissen das verfassungsmässige Recht auf Privatsphäre
(Art. 36 BV) geschützt wird, ist die Bewilligung zur Offenbarung des
Berufsgeheimnisses nur zulässig, wenn neben der gesetzlichen
Grundlage, welche sowohl in Art. 321 StGB als auch in § 30 GesG
besteht, das Interesse des Arztes der Allgemeinheit an der Of-
fenbarung klarerweise gegenüber dem Interesse des Patienten an der
Geheimhaltung überwiegt und der Grundsatz der Verhältnismässig-
keit eingehalten wird. Die Aufhebung der Geheimhaltungspflicht des
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Arztes bedeutet einen Eingriff in die Geheimsphäre, also in höchst-
persönliche Rechte (Heinz Walter Blass, Die Berufsgeheimhaltungs-
pflicht der Ärzte, Apotheker und Rechtsanwälte, S. 71 ff.; Marc-
Antoine Schaffner, L'autorisation de révéler un secret professionnel,
S. 20 f. und 64; Alexander Sieben, Das Berufsgeheimnis auf Grund
des eidgenössischen Strafgesetzbuches, S. 45). Sie darf nur ganz
ausnahmsweise durchbrochen werden, wenn es zur Wahrung höherer
Interessen unumgänglich ist (vgl. BGE 91 I 200 Erw. 2 f. mit Hin-
weisen).
1.2. - 1.4.(...)
2.
2.1.
Art. 15 Abs. 1 BetmG sieht für Ärzte, die bei Ausübung ihrer
beruflichen Tätigkeit einen Betäubungsmittelmissbrauch feststellen,
ein Melderecht vor. Vorausgesetzt wird weder eine Betäubungsmit-
telsucht noch ein massiver Konsum von Betäubungsmitteln, wie sich
insbesondere aus der von der Beschwerdeführerin zitierten Botschaft
zur Änderung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel vom
9. Mai 1973, S. 1363 f. (BBl 1973 I 1348-1379) entnehmen lässt. Bei
dieser Revision wurde in Art. 15 Abs. 1 als auch in der Überschrift
der Ausdruck "Betäubungsmittelsucht" durch "Betäubungsmittel-
missbrauch" ersetzt. Als Betäubungsmittelmissbrauch gilt grund-
sätzlich jeder unbefugte Betäubungsmittelkonsum, d.h. ein Konsum
welcher nicht aufgrund einer ärztlichen Anordnung erfolgt (vgl.
Art. 19 f. und Art. 9 f. BetmG). Die konsumierte Menge ist daher
nicht ausschlaggebend. Massgebend ist vielmehr, dass nach ärztli-
cher Einschätzung Betreuungsmassnahmen im Interesse des Patien-
ten, seiner Angehörigen der Allgemeinheit angezeigt sind.
Schon im Anfangsstadium des Betäubungsmittelgebrauchs und ohne
dass eine Abhängigkeit Sucht vorliegt, können Betreu-
ungsmassnahmen angezeigt sein (Botschaft, a.a.O., 1364).
2.2.
Nach den Akten suchte die Beschwerdeführerin aufgrund eines
Erschöpfungszustandes ihren Hausarzt, Dr. med. X., auf, welcher sie
an den Beschwerdegegner zur psychologischen Betreuung überwies.
Unbestrittenermassen hat die Beschwerdeführerin ihrem damaligen
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Hausarzt, Dr. med. X., und der behandelnden Psychologin in der
Praxis des Beschwerdegegners, Y., mitgeteilt, dass sie übermässig
Alkohol und regelmässig mehrere Joints (15 - 20 Joints pro Tag),
konsumiert. Sie hat ihren erheblichen Betäubungsmittelkonsum und
Alkoholkonsum im Bericht an den Beschwerdegegner unterschrift-
lich bestätigt. In ihrem Schreiben vom (...), in welchem sie ihre Zu-
stimmung zum Bericht von Y. an den Beschwerdegegner widerrief,
führte sie nur an, sie habe zu hohe Mengenangaben gemacht. Damit
ist der Alkohol- und Cannabiskonsum an sich relativiert, aber nicht
ausgeschlossen. Ihre Ausführungen im Schreiben vom (...) können
in Übereinstimmung mit der Vorinstanz nur so verstanden werden,
dass die Beschwerdeführerin lediglich ihre Angaben hinsichtlich der
konsumierten Mengen widerrief. Nicht widerrufen ist damit die Tat-
sache, dass sie Cannabis konsumiere bzw. konsumierte. Auch in der
Stellungnahme vom (...) bestreitet die Beschwerdeführerin den
Konsum nicht. Vielmehr ist auch hier lediglich die Rede von weit
überhöhten Angaben der Beschwerdeführerin betreffend ihres eige-
nen Suchtmittelkonsums. Das Gleiche gilt für die Ausführungen in
der Beschwerdeschrift vom (...). Die gegenteiligen Ausführungen in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erscheinen damit wenig über-
zeugend und auch das Blutanalyseblatt lässt nicht zwingend auf eine
Betäubungsmittelabstinenz schliessen. Analysewerte für die ein-
schlägigen Substanzen (vgl. dazu Art. 2 Abs. 2 VRV) fehlen.
Zu berücksichtigen ist weiter, dass die Beschwerdeführerin die
Vornahme einer Blutanalyse zu ihrem Betäubungsmittelkonsum ver-
weigerte und die Behandlung in der Praxis des Beschwerdegegners
vorzeitig abgebrochen hat. Sie lehnte sodann eine Entbindung ihres
Hausarztes Dr. X. vom Arztgeheimnis ab und wechselte zu einem
neuen Hausarzt. Verdachtsmomente eines Alkoholmissbrauchs erge-
ben sich sodann aus dem Bericht des Kantonsspitals (...), wonach
die Beschwerdeführerin während einer Arztkonsultation mit einem
Pflegekind alkoholisiert gewesen sein könnte.
2.3.
Im Zeitpunkt des Entbindungsgesuchs (...) betreute die Be-
schwerdeführerin die leibliche Tochter A., geb. 2002, seit Dezember
2005 den Pflegesohn B., geb. 2004, und seit Dezember 2004 das Ta-
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geskind C., geb. 2002. Zusätzlich beaufsichtigte sie stundenweise
Tageskinder, welche ihr von Z. vermittelt wurden. Aktenkundig sind
massive Erziehungsschwierigkeiten beim Pflegekind.
Die Beschwerdeführerin war vom (...) bis (...) in der Gemein-
schaftspraxis des Beschwerdegegners in Behandlung. Unbestritten
ist, dass die Beschwerdeführerin an einem (grossen) Erschöpfungs-
zustand litt. Ihr Hausarzt verschrieb Psychopharmaka und riet zu ei-
ner psychiatrischen Abklärung und Behandlung. Gegenüber ihrem
Hausarzt und im Verlaufe der psychiatrischen Behandlung gab sie
detailliert Auskunft zu ihrem Betäubungsmittel- und Alkoholkonsum,
welche den Schluss auf eine Substanzabhängigkeit und einen
Suchtmittelabusus zuliessen. In ihren anamnetischen Angaben schil-
derte sie eine jahrelange Depression mit Angstzuständen. Die Anga-
ben bestätigte sie mit ihrer Unterschrift zum Bericht der behandeln-
den Psychologin.
Aufgrund der Angaben der Beschwerdeführerin, den Feststel-
lungen des Hausarztes und des Beschwerdegegners bzw. der behan-
delnden Psychologin, lagen angesichts der unbestrittenen Belas-
tungssituation der Beschwerdeführerin ausreichende objektive An-
haltspunkte für eine mögliche Gefährdung der von ihr betreuten
Kinder vor. An den ausreichenden Verdachtsgründen vermag der
Widerruf der Angaben zum Betäubungsmittelkonsum und ihrer Un-
terschrift zum Bericht der Psychologin nichts zu ändern. Die Melde-
pflicht in Art. 15 Abs. 1 BetmG hat einen präventiven Charakter. An
den Nachweis des Betäubungsmittelmissbrauchs sind daher keine
hohen Anforderungen zu stellen und er erfordert insbesondere keinen
(Labor-) Nachweis der medizinischen Befunde. Im Einzelfall können
die anamnetischen Angaben eines Patienten einer Patientin
durchaus genügen, wenn sie glaubhaft erscheinen und eine zulässige
Grundlage für eine medizinische Diagnose bilden. Der Beschwerde-
führerin kann daher nicht gefolgt werden, wenn sie ihrem Widerruf
eine grössere Bedeutung beimessen will, als den gegenüber Hausarzt
und - während Monaten - dem Beschwerdegegner bzw. der behan-
delnden Psychologin gegenüber aufrecht erhaltenen, unterschriftlich
bestätigten Angaben zu ihrer psychischen Verfassung und ihrem
Suchtverhalten. Der Widerruf erfolgte zudem nach Darstellung der
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Beschwerdeführerin und ihres Ehegatten im Zusammenhang mit der
ultimativen Aufforderung des Beschwerdegegners zu einer Blutana-
lyse und stand offensichtlich bereits mit dem Behandlungsabbruch
im Zusammenhang. Ziel der Blutanalyse war nachgerade die zuver-
lässige Feststellung der Sucht und damit die Verifizierung der Anga-
ben der Beschwerdeführerin. Ihre Weigerung und der Behandlungs-
abbruch konnten damit auch eine zusätzliche Selbst- Drittge-
fährdung nahelegen zumindest anfängliche Verdachtsmomente
verstärken. Wie es sich damit verhält, ist unter diesen Umständen
nicht abschliessend zu untersuchen. Zur Gefährdungsmeldung nach
dem Betäubungsmittelgesetz sind die Ärzte ermächtigt, wenn sie
aufgrund einer medizinischen Diagnose eine Betreuungsmassnahme
u.a. im Interesse des Patienten und seiner Angehörigen als angezeigt
erachten. Die gesetzliche Ermächtigung räumt den Ärzten ein Er-
messen bei der Einschätzung des Gefährdungspotenzials ein. Soweit
Drittpersonen das Verhalten der Beschwerdeführerin nachträglich als
"Hilferuf" bezeichnen und vortragen, sie habe in ihrer Schilderung
masslos übertrieben, kann dem Beschwerdegegner keine falsche Ein-
schätzung vorgeworfen werden. Gerade solche "Hilferufe" können
auch Anlass zu Betreuungsmassnahmen bilden. Die Angaben der
Beschwerdeführerin zur konkreten Lebens- und Familiensituation
konnten vom Beschwerdegegner naturgemäss nur beschränkt auf ih-
ren Wahrheitsgehalt geprüft werden, und Anlass zu Zweifeln an ihrer
Glaubwürdigkeit ergab sich allenfalls, als sie ihre Angaben widerrief.
Im Hinblick auf die Gefährdungssituation und die Notwendigkeit
von Betreuungsmassnahmen konnte der Widerruf daher durchaus ei-
nen weiteren Anlass zur Abklärung durch die zuständigen Behörden
geben. Die Meldung gemäss Art. 15 Abs. 1 BetmG soll gerade die
Möglichkeit zur rechtzeitigen Abklärung einer möglichen Gefähr-
dung gewährleisten. Die Meldestellen unterstehen dem Amts- und
Berufsgeheimnis (vgl. Art. 15 Abs. 2 BetmG). Unter diesen Umstän-
den das Gesuch um Entbindung vom Arztgeheimnis zu stellen, ist
daher nicht zu beanstanden. Hinzu kommt, dass das Gesuch um Ent-
bindung sich auch deshalb rechtfertigte, weil Art. 15 BetmG i.V.m.
der kantonalen Bestimmung in § 11 der Vollziehungsverordnung zum
Bundesgesetz über die Betäubungsmittel vom 3. September 1953
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(VVO BetmG) den Arzt in schweren Fällen zur Meldung verpflich-
tet.
Eine niedrige Schwelle ist grundsätzlich bei der Beurteilung der
Gefährdung von Kleinkindern angezeigt. Der Arzt, welcher eine Pa-
tientin mit Betreuungs- und Obhutspflichten von Kleinkindern be-
handelt, verfügt in der Regel nicht über die notwendigen Informa-
tionen zur Beurteilung einer konkreten Gefährdung, noch ist er für
diese Abklärungen zuständig. Die Gefährdungsmeldung hat vielmehr
den Zweck die zuständigen Behörden auf eine mögliche Gefahr für
das Kindeswohl aufmerksam zu machen. Dem Schutzzweck zum
Wohl des Kindes dienen auch die bundes- und kantonalrechtlichen
Bestimmungen im Kindesrecht. Ist ein Kind gefährdet und sorgen die
Eltern nicht von sich aus für Abhilfe sind sie dazu ausserstande,
so trifft die Vormundschaftsbehörde die geeigneten Massnahmen
zum Schutz des Kindes (Art. 307 Abs. 1 ZGB). Die Kantone sichern
durch geeignete Vorschriften die zweckmässige Zusammenarbeit der
Behörden und Stellen auf dem Gebiet des zivilrechtlichen Kindes-
schutzes, des Jugendstrafrechts und der übrigen Jugendhilfe
(Art. 317 ZGB). Im Kanton Aargau gilt, aufgrund dieser bundes-
rechtlichen Vorgaben, ein Melderecht und eine Meldepflicht. Gemäss
§ 55b Abs. 1 EG ZGB ist "jedermann" berechtigt, die Gefährdung
von Kindern der Vormundschaftsbehörde zu melden. Abs. 2 dieser
Bestimmung verpflichtet Behörden und Beamte zu einer solchen
Meldung. Bei objektiven Anhaltspunkten für eine Gefährdung des
Kindeswohls kann der Arzt daher eine Gefährdungsmeldung an die
Vormundschaftsbehörde richten. Das gesetzliche Melderecht im
kantonalen Recht begründet, wie Art. 15 Abs. 1 BetmG, einen Recht-
fertigungsgrund gemäss Art. 14 StGB und berechtigt den Geheim-
nisträger jedenfalls eine Bewilligung bei der vorgesetzten Behörde
zu beantragen (Brigitte Tag, in: Moritz W. Kuhn/Thomas Poledna,
Arztrecht in der Praxis, 2. Aufl., Zürich 2007, 13. Kapitel, V.1.e/cc,
S. 754). Ob dieses Melderecht sogar die Entbindung vom Berufsge-
heimnis durch die vorgesetzte Behörde unnötig macht, wie dies ein
Teil der Lehre vertritt, kann hier offen bleiben (vgl. Brigitte Berger
Kurzen; E-Health und Datenschutz, Rz. 199). Der Hinweis des Be-
schwerdeführers auf die in der VVO BetmG vorgesehene Zuständig-
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keit des Kantonsarztes für die Meldung nach Art. 15 BetmG ist daher
nicht relevant.
Der nach Darstellung der Beschwerdeführerin bloss vorgescho-
bene regelmässige und übermässige Cannabis- und Alkoholkonsum
begründete, aufgrund des unbestrittenen Erschöpfungszustands der
Beschwerdeführerin, ausreichende Verdachtsmomente für eine Mel-
dung, selbst wenn die Mengenangaben nachträglich bestritten wur-
den und nicht zutreffen. Nicht zu beanstanden sind daher die Fest-
stellungen der Vorinstanz zur Überlastungssituation und zum aus-
reichenden Gefährdungsverdacht. Aufgrund der objektiv möglichen
und nicht auszuschliessenden Gefährdung der drei Kinder wurde das
Interesse an der Entbindung vom Berufsgeheimnis zu Recht höher
als das Interesse der Beschwerdeführerin an der Wahrung ihrer
Geheimnissphäre eingestuft. Von einer ungenügenden, weil zu vagen
Verdachtslage kann nicht die Rede sein, auch wenn rückblickend die
Beurteilung des Beschwerdegegners unzutreffend war die Vor-
mundschaftsbehörde den Verdacht nicht bestätigen konnte. Dem Be-
schwerdegegner stand bei der Beurteilung einer möglichen Gefähr-
dung der Kinder, welche der Beschwerdeführerin anvertraut waren,
ein erhebliches Ermessen zu. Im Zweifelsfall ist eine Gefährdungs-
meldung im Interesse der Kinder angebracht, wenn nicht geboten. Im
massgebenden Gesuchszeitpunkt waren daher die Voraussetzungen
für eine Entbindung gegeben, zumal die Beschwerdeführerin die me-
dizinische Verifizierung selbst verhinderte.
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